- Zeitzeuginnen berichten in Taucha über DDR-Erlebnisse im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau -
Ergriffenes Schweigen herrschte am Dienstagabend zur Blauen Stunde des Kunst- und Kulturvereins Taucha. Die Zuschauer im Café Esprit wussten nicht, ob sie klatschen sollten oder nicht und taten es dann doch. Zu bewegt waren sie von dem, was Kerstin Kuzia und Katrin Begoin über die wohl schlimmsten Tage ihres Lebens im Jugendwerkhof Torgau zu berichten hatten. In Torgau hat sich von 1964 bis 1989 der einzige geschlossene Jugendwerkhof der ehemaligen DDR befunden und war Bildungsministerin Margot Honecker persönlich unterstellt. Keiner wusste, was in Torgau wirklich geschehen ist, denn Betroffene wurden durch Stillschweigeerklärungen zum Schweigen verurteilt und die Täter tun es noch immer.
Erst über ein Jahrzehnt später haben Betroffene den Mut gefunden, darüber zu reden und sich in Torgau zu treffen. Doch von den insgesamt 4000 kamen vielleicht 400. Warum wurden in Torgau Jugendliche, ohne eine Straftat begangen zu haben und ohne richterliche Anordnung unter den menschenunwürdigsten Bedingungen eingesperrt? Kerstin Kuzia, die immer dieses große „Warum?“ im Kopf hatte, berichtete, wie sie aus nichtigem Grund – wegen Bettnässens – von der Mutter abgeschoben wurde und über die Kinderpsychiatrie schließlich in mehreren Jugendwerkhöfen landete. Weil sie sich einer Erzieherin offenbarte, wurde sie wegen der angeblichen Organisation eines Massenaufbruchs in den schlimmsten aller Jugendwerkhöfe nach Torgau verlegt.
Katrin Begoin schloss sich in ihrer Heimatstadt Saalfeld einer Gruppe von Jugendlichen an, die unter Beobachtung der Staatssicherheit standen. Ihre Eltern wandten sich ahnungslos an die Jugendhilfe, doch das Amt wies die damals 15-Jährige Tochter in ein Durchgangsheim nach Gera ein. Dort fiel sie gleich mit dem Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ und einer Tätowierung auf und kam über Eilenburg, von wo sie mehrere Male geflüchtet war, nach Torgau, der Endstation. Selbst ihren Eltern konnte sie nicht von den Erniedrigung und Demütigungen erzählen: Die Jugendlichen mussten sich vor den Erzieherinnen und Erziehern nackt ausziehen und wurde kahl geschoren. Überall gab es Kontrollen und Funktionäre, sogar für den Hygienebereich. Im Gespräch mit Moderator Roman Knoblauch gestanden Kuzia und Begoin: „Viele Sachen sind noch heute für uns ein Trauma, doch wir trösten uns untereinander, obwohl der Schwarzweiß-Film im Hintergrund immer abläuft“. Noch heute leiden sie an den körperlichen und seelischen Strapazen. Beide versuchen, jeder auf seine Weise, das Erlebte aufzuarbeiten. Kerstin Kuzia initiierte Grit Poppe zu dem Buch „Weggesperrt“ – welches vor kurzem mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis ausgezeichnete wurde – und Katrin Begoin verarbeitet das Ganze in Liedern, die wahrhaftig unter die Haut gehen.
Zuhörerin Sandra Hammer, die immer gesagt bekam, dass Leute, die nach Torgau kommen, schlechte Menschen sind, nahm sichtlich schockiert die Wahrheit zur Kenntnis. „Heute ist das nicht mehr vorstellbar“, sagte sie erleichtert im Hinblick auf ihr in wenigen Monaten zu erwartendes Kind. „Mein Kind soll stark sein und immer sagen, was es denkt“, ergänzt und hofft sie. Moderator Roman Knoblauch, der das Buch „Weggesperrt“ an einem Tag „verschlungen“ hat, war nach dem Gespräch tief beeindruckt wie Kerstin Kuzia das Erlebte authentisch erzählte und wie Katrin Begoin mit der Gitarre in der Hand ein anderer, starker Mensch wurde. Spontan kündigte er an, dass er daraus zusammen mit Tobias Meier eine Sendung im Leipzig-Fernsehen machen will.
veröffentlicht in der LVZ vom 18.11.10, Lokalseite Schkeuditz- Taucha, S. 22
mkudra am 19. November 10
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